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   Jeder qualifizierte Ansatz, der sich mit dem Leinenzwang beschäftigt, hat nicht nur von Überlegungen zu menschlichen Umweltbedürfnissen auszugehen, sondern muss ebenso gewissenhaft die biologischen Ansprüche berücksichtigen, die von Hunden an ihre Umgebung gestellt werden. Damit drängt sich die Frage auf, welche Bedeutung eine generelle Anleinpflicht für den Hund hätte. Heutzutage ist der Wolf als einzige wild lebende Stammform all unserer Haushunde wissenschaftlich weitgehend anerkannt. Und das bedeutet, dass, solange wir nicht konkret die Bedürfnisse einer bestimmten Haushundeform untersucht haben, wir auf den Wolf als grundlegendes Bezugs- und Vergleichssystem angewiesen sind. Im Laufe der Domestikation haben sich unter menschlichem Einfluss bestimmte Haushundeformen zwar stark von ihrer wilden Ursprungsart verändert, jedoch ist es dem Menschen bisher glücklicherweise nicht gelungen, eine vollkommen neue biologische Art zu züchten, so dass wir innerhalb der Art einerseits eine recht hohe Variabilität vorfinden, die andererseits jedoch nicht die Artgrenzen und damit grundsätzliche biologische Gemeinsamkeiten überwinden kann. Deshalb sei es an dieser Stelle erlaubt, um eine erste Vorstellung davon zu entwickeln, welche grundsätzlichen Ansprüche ein Haushund an seine Umgebung stellt, einen kurzen Blick auf bestimmte Aspekte des Alltagslebens von Wölfen zu werfen.

   Wölfe weisen sich nicht nur durch ihren Körperbau als typische Langstreckenläufer aus, sondern auch in ihrem Verhalten sind sie der Notwendigkeit, größeren Beutetieren folgen zu können, hervorragend angepasst. So verbringen nordamerikanische Wölfe im Winter etwa 20 bis 30 Prozent ihrer Zeit damit, im Rudel zu wandern, wobei sie mit einer Fortbewegungsgeschwindigkeit von etwa 8 km in der Stunde etwa 50 km pro Tag zurücklegen.

   Natürlich geht es bei diesen ausgedehnten Wanderungen der Wölfe nicht darum, lediglich reine Muskeltätigkeit zu leisten, da mit sozusagen der Körper „nicht einrostet". Vielmehr liegt hier ein unabdingbares und nur in bestimmten Grenzen veränderliches Verhaltensprogramm vor, dessen biologischer Sinn darin besteht, Sozialpartner zu erreichen und Beute verfolgen zu können. Obwohl das mit dem Beutefang verbundene Verhalten beim Hauswund einer besonderen züchterischen Kontrolle unterliegt, sind die grundlegenden wölfischen Verhaltensprogramme nicht verschwunden. Auch verwilderte Haushunde durchstreifen bei freiem Gelände immer noch ein Gebiet bis 28,5 km2, auch wenn sie hierbei seltener Beute erjagen als Müllkippen plündern.

   Der Hund verfügt also über ein besonders stark ausgeprägtes Bewegungsbedürfnis, das sich zwar bei den einzelnen Rassen unterschiedlich deutlich darstellen kann, aber letztendlich dem menschlichen Drang zur Bewegung weit überlegen ist. Wenn man einem Hund ausschließlich die Möglichkeit zur Fortbewegung bietet, indem man ihn mit einem in der Regel wesentlich unbeweglicheren Menschen „zusammenbindet", nimmt man ihm jede Gelegenheit, seinen Bewegungsansprüchen nachzukommen. Auch eine Radfahrt mit dem angeleinten Hund bietet keine Alternative, weil hierbei zwar die zurückgelegte Strecke zunimmt, aber dieses notwendigerweise den Straßenverhältnissen angepasst mit einer kontinuierlichen Geschwindigkeit geschieht, die dem Hund vorwiegend einen schnellen Trab abfordert, der höchstens für mittelgroße Rassen und dann auch nur für entsprechend trainierte Tiere in Frage kommt.

   Über die reine Fortbewegung hinaus nehmen Wölfe oder Hunde, während sie ihren Weg zurücklegen, eine kaum überschaubare Vielzahl von Umgebungsreizen wahr, auf die sie in entsprechender Weise reagieren müssen. Es ist hinlänglich bekannt, dass Hunde über einen besonders empfindlichen Geruchssinn verfügen. Hierbei reagieren Hunde auf einem normalen Spaziergang natürlich auch auf die für sie geruchlich wahrnehmbaren Hinterlassenschaften ihrer Artgenossen, und selbstverständlich wird potentielles Futter ebenfalls untersucht. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang neuere wissenschaftliche Ergebnisse zur Geruchswahrnehmung.

   Die Wahrnehmung eines Geruchs geht nämlich weit über die bloße Reizaufnahme hinaus, statt dessen kann man sich die zu Grunde liegenden neurophysiologischen Abläufe als ein dynamisches Wechselspiel verschiedener Hirnregionen vorstellen. Ausgangspunkt aller Wahrnehmung scheint dabei zu sein, dass das Gehirn fortwährend bestrebt ist, Informationen aufzunehmen, indem es seinen Träger anweist, zu schauen, zu hören und zu riechen. Dieses Informationsbedürfnis ist auf die Aktivität eines Hirnteils zurückzuführen, der beim Menschen an der Erzeugung von Gefühlen und an Gedächtnisprozessen beteiligt ist. Das Ergebnis dieser Vorgänge im sogenannten limbischen System sind motorische Aktivierungen zur Informationsbeschaffung. Es existiert also für Hunde oder Wölfe ein natürliches Bedürfnis zur Informationsaufnahme, und natürlich bezieht sich dieses Bedürfnis nicht nur auf ein und dieselbe Reizqualität.

   Der Hund braucht Abwechslung in der Umgebung, in der er sich bewegt, ansonsten riskiert man das Entstehen einer Verhaltensstörung aufgrund mangelnder Umweltreize. Ein ständig angeleinter Hund kann sich natürlich nur auf den Strecken bewegen, die sein menschlicher Begleiter unter rein menschlichen Aspekten auswählt. Natürlich decken sich hierbei die entsprechenden Auswahlkriterien in den seltensten Fällen. Man beachte allein die unterschiedliche Bedeutung, die einem hypothetischen Geruch einerseits von dem primär optisch orientierten Menschen und andererseits von einem primär geruchlich orientierten Hund zuerkannt wird. Durch eine ständig angeleinte Haltung verringert sich automatisch die erfahrbare Reizvielfalt für den Hund, weil die Reizauswahl von einem Menschen vorgenommen wird und nur ein geringer Teil der für den Menschen relevanten Umweltreize eine entsprechende Bedeutung für den Hund besitzt.

   Ein weiteres wichtiges Element im Leben eines Hundes sind häufige soziale Kontakte zu Artgenossen. Auch hierin zeigt sich das wölfische Erbe, denn Wölfe leben vorwiegend in Rudeln unterschiedlicher Mitgliederzahl. Der Mensch steht dem Hund nur sehr eingeschränkt als „Sozialpartner" zur Verfügung. Statt dessen benötigt jeder Hund intensive und ausgiebige Kontakte zu seinesgleichen. Ein Hund muss von frühester Jugend an soziale Fertigkeiten erlernen. Die einzelnen sozialen Verhaltensweisen reifen auch ohne Beteiligung von Artgenossen in einem Hund heran, allerdings muss die Verwendung des Verhaltens in sozialem Kontext erst einmal erlernt und eingeübt werden. Deshalb zeigen solche Hunde, die ohne umfangreiche soziale Erfahrungen aufwachsen mussten, häufig ein schwerwiegend gestörtes Verhalten nicht nur im Umgang mit Artgenossen, sondern vielfach auch im Umgang mit den Menschen.

   Ein angeleinter Hund kann soziale Kontakte zu Artgenossen nur bedingt unter starken Einschränkungen führen. Dieses widerspricht jedoch allen natürlichen Verhaltensprogrammen. Bei einer Begegnung unter Hunden ist es üblich, dass die Tiere zunächst einmal gegenseitig ihre soziale Position demonstrieren und hierzu häufig imponierend umeinander laufen. Geruchskontrollen, vorwiegend im Anogenitalbereich, ergänzen die Information. Selten kommt es sofort zu einer aggressiven Auseinandersetzung, sondern statt dessen lernen sich die Sozialpartner nachfolgend über spielerische Verhaltensweisen besser kennen und einschätzen. Häufig beobachtet man bei solchen Begegnungen ausgedehnte Rennspiele, bei denen sich die Tiere mit wechselnden Rollen gegenseitig hinterherlaufen.

   Angeleinte Hunde können ihre Distanz zu einem Sozialpartner kaum regulieren. Damit ist es ihnen nicht möglich, einer sozialen Bedrängnis zu entgehen, indem sie sich etwas zurückziehen. Die Folge ist oftmals ein Abwehrschnappen des bedrängten Tieres zur Verteidigung, obwohl sich der andere Hund zuvor in keiner Weise aggressiv verhalten hatte. Nun, wo sich bereits das eine Tier, wenn auch nur zur Verteidigung, aggressiv verhält, reagiert auch der andere Hund entsprechend, und es folgt eine vor allem für den Menschen unangenehme Beißerei. Die Leine verhindert von Anfang an jedes Rennspiel, das sonst zum besseren Kennenlernen der Tiere oder zur Auflösung eines sich anbahnenden Konflikts wertvolle Dienste geleistet hätte. Eine generelle Anleinpflicht für Hunde würde ungestörte innerartliche Interaktionen nahezu vollständig verhindern.

   Statt dessen wäre eine drastisch steigende Zahl der Bissverletzungen bei Hunden und auch bei Menschen zu erwarten, da sozial deprivierte Hunde üblicherweise an schwerwiegenden Verhaltensstörungen erkranken, die kaum noch zu therapieren sind. Kennzeichnend für solche Tiere ist ihre ausgesprochen hohe und untypische Aggressivität.

   Ein weiterer kritischer Aspekt der Anleinpflicht besteht darin, dass zu einer ordnungsgemäßen Anwendung der Hundeleine die entsprechende Leinenführigkeit beim Hund gehört. Normalerweise muss ein Hund aber erst lernen, seinen Besitzer nicht an der Leine hinter sich her zu schleifen. Wenn sich eine solche Unerzogenheit des Hundes bei kleineren Rassen auch nicht besonders augenscheinlich offenbart, so ist sie bei großen Hunderassen kaum noch zu übersehen. Die generelle Anleinpflicht bei einem nicht leinenführigen Hund scheint keine ausgesprochen sinnvolle Kombination darzustellen. Möglicherweise ergibt sich gerade hieraus für manchen Menschen ein erhöhtes Unfallrisiko.

   Durch eine generelle Anleinpflicht nimmt man dem Hund nicht nur die Gelegenheit, seinem Bewegungsbedürfnis nachzukommen, sondern zusätzlich verringert man die Möglichkeit, für den Hund bedeutsame Reizqualitäten in entsprechender Vielzahl aufnehmen zu können. Unter diesen Umständen ist bei Haushunden eine artgemäße Verhaltensentwicklung nicht mehr gegeben. Es steht zu erwarten, dass sich unter einer generellen Anleinpflicht in erhöhtem Maße Deprivationsschäden bei Hunden ausbilden, die zu schwerwiegenden Verhaltensstörungen führen. Aus diesen Gründen ist auch unter tierschutzrechtlicher Betrachtung eine generelle Anleinpflicht bei Hunden nicht sinnvoll.

Lösungsmöglichkeiten

   Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich in diesem Artgrenzen überschreitenden Interessenkonflikt? Sicherlich ist eine genau spezifizierte Anleinpflicht nur für den Einzelfall denkbar, um etwa im Rahmen einer polizeibehördlichen Vorschrift bei einem gefährlichen Hund eine besondere Kontroll- und Einflussmöglichkeit anzuwenden.

   Darüber hinaus kann man einer möglichen Belästigung durch Hunde nur dadurch vorbeugen, dass man jeden Hundehalter eventuell sogar vor der Anschaffung des Tieres zunächst genauestens darüber unterrichtet, welches Verhalten bei einem Hund in bestimmten Situationen höchstwahrscheinlich zu erwarten ist, und welche kontrollierenden Maßnahmen in problematischen Momenten in Übereinstimmung mit den natürlichen Verhaltensprogrammen des Hundes vom Hundeführer ergriffen werden können.

   Eine generelle Anleinpflicht ist mit Sicherheit nicht die einzige Möglichkeit, das Verhalten von Hunden zu kontrollieren. Die möglichst genaue Kenntnis des Hundeverhaltens würde sicherlich so manchem Missverständnis und überflüssiger Beängstigung vorbeugen. Wenn man die Bereitschaft dazu, sich dieses Wissen anzueignen, auch nicht bei jedem Menschen als Selbstverständlichkeit voraussetzen darf, so sollte es zumindest für denjenigen, der ständig mit dem Hund umgeht, zur Pflicht werden. Ein entsprechend informierter Hundehalter wäre durchaus dazu in der Lage, einschätzen zu können, wann von seinem Tier eine Gefahr ausgeht und wann nicht. Auf der Grundlage dieses Wissens lassen sich Missverständnisse, Belästigungen und Gefährdungen durch Hunde einschränken.

   Einen weiteren Beitrag zur Einschränkung des Problems könnte man sich in der Einrichtung von öffentlichen „Hundebegegnungsstätten" vorstellen. In Frage kämen hierfür große, eingezäunte und begrünte Auslaufflächen, die vielfältige soziale Kontakte für Hunde und Halter ermöglichten. Jeder Hundefreund würde sicherlich lieber mit seinem Tier einen solchen „Hundetreff" aufsuchen, als in der Innenstadt den Zorn wenig hundebegeisterter Mitmenschen auf sich zu ziehen. Diejenigen, die Hunden lieber aus dem Weg gehen, würde man sicher nicht auf einem solchen Platz antreffen, und eine generelle Anleinpflicht wäre für die Befriedigung ihres berechtigten Sicherheitsbedürfnisses nicht mehr nötig.

Dipl.-Biologe Frank in der Wieschen
Ethologe / Tierverhaltenstherapeut, Extertal

(Quelle: "Leinenzwang, eine Fessel für den Hund" – Interessengemeinschaft Deutscher Hundehalter e.V.)