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   Nach der Nds. GefTVO besteht außerhalb einer Privatwohnung oder eines ausbruchsicheren Grundstücks Maulkorb- und Leinenzwang für Hunde des § 1 (Bullterrier, American Staffordshire Terrier, Pit Bull Terrier und deren Mischlinge) unabhängig von ihrem Lebensalter. Weiterhin besteht außerhalb einer Privatwohnung oder eines ausbruchsicheren Grundstücks Maulkorb- und Leinenzwang für Hunde der Anlage 1, wenn sie älter als 6 Monate sind.

   Hunde des § 1 GefTVO können auch durch einen bestandenen Wesenstest nicht vom Maulkorb- und/oder Leinenzwang befreit werden. Sie können nur vom ständigen Maulkorbzwang befreit werden, wenn durch ein Gutachten des betreuenden Tierarztes belegt wird, daß dem Hund aufgrund einer akuten oder schweren chronischen Erkrankung durch das Tragen eines Maulkorbes erhebliche Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden, der Hund nach Gutachten des beamteten Tierarztes sozialverträglich ist und von ihm keine Gefahr für Dritte ausgeht.

   Hunde der Anlage 1 GefTVO können vom Maulkorbzwang befreit werden, wenn sie sich nachweislich in einer Begleithundeausbildung befinden oder eine Begleithundeprüfung erfolgreich abgelegt haben. Hunde der Anlage 1 GefTVO können von Maulkorb- und Leinenzwang befreit werden, wenn sie einen Wesenstest erfolgreich abgelegt haben. Ein Wesenstest kann frühstens im Alter von 15 Monaten abgelegt werden.

   Bedeutung des Maulkorb- und Leinenzwangs für Junghunde

   Hunde durchlaufen bis zu ihrer sozialen Reife, die individuell unterschiedlich und rasseabhängig im Alter von 18 bis 24 Monaten erreicht ist, verschiedene Phasen der sozialen Entwicklung. Während dieser gesamten Verhaltensontogenese gibt es mehrere sensible Phasen, die von ganz entscheidender Bedeutung für die spätere Auseinandersetzung des Hundes mit seiner sozialen Umwelt sind. Eine wichtige sensible Phase betrifft den Zeitraum von der 4. bis zur 14. Lebenswoche (bei einigen Rassen bis zur 20. Lebenswoche). Junghunde sind in dieser Entwicklungsphase extrem sensibel gegenüber speziellen Reizen der kommunikativen Umwelt, die sich auf ihre soziale Ausformung in der Auseinandersetzung mit Sozialpartnern beziehen. In dieser Zeit wird das spätere "Handlungsvermögen" der Tiere festgesetzt. So sind zum Beispiel Dominanz- und Unterwerfungsgesten angeboren, jedoch müssen Welpen lernen, wann diese Gesten gezeigt werden müssen und wie diese Gesten bei anderen Artgenossen aussehen. Fehlen jetzt soziale Kontakte (sozialer Erfahrungsentzug, Deprivation), so sind die betreffenden Tiere später vielfach nicht mehr in der Lage, normale soziale Beziehungen zu entwickeln. Dies trifft im Hinblick auf den Sozialpartner Mensch und auf Artgenossen zu. Nach Hart u. Hart (1991) ist die Neigung mit anderen Hunden zu kämpfen, Ausdruck einer nicht erfolgten Sozialisation, bei der der Hund hätte lernen müssen, durch Drohgebärden und Unterwerfungsgesten Konflikte beizulegen, ohne wirklich zu kämpfen. Deprivation in dieser sensiblen Phase führt außerdem zu Fehlentwicklungen des Gehirns, die im späteren Leben zu verstärkten Angst- und Aggressionsreaktionen in Stresssituationen führen können.

   Normalerweise werden Junghunde im Alter von 8 bis 10 Wochen an den neuen Besitzer abgegeben, ein Alter in dem sie sich in einer Phase differenzierter Auseinandersetzung mit allen Umweltgegebenheiten befinden. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die meisten Welpen nur ihre Mutter und ihre Wurfgeschwister kennengelernt. Da unsere Haushunde aber heutzutage nicht in festen Gruppen leben, sondern später mit allen Hunden unterschiedlicher Rassen und Größen gut auskommen sollen, müssen die Welpen nun lernen, das Ausdrucksverhalten anderer Hunde interpretieren zu können. Viele unserer heutigen Hunderassen haben ein stark eingeschränktes und sehr unterschiedliches Ausdrucksverhalten (Stellung und Länge der Ohren und der Rute, Länge und Beschaffenheit des Fells; Extrembeispiel: Bobtail). Junge Hunde können das Ausdrucksverhalten, die Motivation anderer Hunde und den Umgang mit Artgenossen am besten im Spiel erlernen. Im Spiel müssen junge Hunde z.B. auch die Beißhemmung gegenüber Sozialpartnern (Mensch und Artgenossen) erlernen.

   Bei Hunden, die einen Maulkorb tragen, ist das mimische Ausdrucksverhalten eingeschränkt. Beiß- und Kampfspiele, zum Beispiel um ein bestimmtes Spielzeug, mit Artgenossen sind unmöglich. Zusätzlich schränkt auch ein gut passender Maulkorb die Körpertemperaturregulation (Hecheln) ein, so dass auch schnelle Laufspiele mit Artgenossen nur eingeschränkt möglich sind. Gerade diese Laufspiele mit Artgenossen und viel freie Bewegung (artgemäße Bewegung) sind für den Junghund zum Aufbau von Muskulatur, Knochen und Gelenken wichtig, um späteren Schäden vorzubeugen. An der Leine neben dem Fahrrad herzulaufen oder mit dem Besitzer zu joggen, sind eintönige Bewegungsabläufe, die z.B. bestimmte Gelenke sehr stark beanspruchen. Der junge, noch wachsende Hund, kann keine Pausen einlegen oder eine andere Geschwindigkeit wählen, wenn es für ihn nötig wäre.

   Der spätere Sozialisationsgrad von Hunden sowie insbesondere die soziale Expansionstendenz, die soziale Sicherheit und die Sicherheit allen Umwelteinflüssen gegenüber sind abhängig von der sich weiter entwickelnden "Verhaltenskonstitution" im Wechsel mit späteren sozialen Erfahrungen. Eine große Rolle spielt dabei die zweite wichtige sensible Phase des Junghundes - die Pubertät. Diese tritt, individuell verschieden und rasseabhängig, zwischen dem 6. und 14. Lebensmonat ein. Aufgrund der Hormonumstellung des Körpers kommt es noch einmal zu einer so genannten "Angstphase" gegenüber Artgenossen und bis dahin unbekannten Umweltreizen. Ein Hund hat mehrere Möglichkeiten auf eine Angst auslösende Situation zu reagieren: die Flucht, das Anbieten einer Ersatzhandlung (Spielen) oder der Angriff. Ist der Hund an der Leine, kann er weder flüchten noch kann er als Ersatzhandlung, um die Angst auslösende Situation zu entspannen, ein Spiel anbieten. Daher bleibt als einzige Möglichkeit nur die aggressive Auseinandersetzung mit der Situation. Hat der Junghund in dieser sensiblen Phase seiner sozialen Entwicklung gelernt, auf Angst auslösende Situationen nur mit Aggression reagieren zu können, wird er dieses Verhalten auch als adulter Hund zeigen. Der Grad der Aggressivität, den Hunde im Erwachsenenalter gegenüber Artgenossen und Menschen zeigen, steht in einer klaren Beziehung zu den Möglichkeiten, über die ein Individuum bei der Auseinandersetzung mit Artgenossen (oder anderen Umweltreizen) zu bestimmten Zeiten während des Heranwachsens (sensible Phasen) verfügte (Scott, 1962). Sozial deprivierte Hunde sind eine potentielle Gefahr für Menschen und ihr Verhalten ist durch ständige Unsicherheit und angespannte Erregung gekennzeichnet, da normale Lebensumstände ihr Anpassungsvermögen überfordern (Feddersen-Petersen 1991 a, 1991 b). Zur potentiellen Menschengefährdung kommt hier noch die Tierschutzrelevanz des Leidens dieser Tiere.

   Bedeutung des Maulkorb- und Leinenzwangs für adulte Hunde

   Nicht nur für die soziale Entwicklung des Junghundes sind Auseinandersetzungen mit Umweltreizen und Sozialpartnern (Menschen und Artgenossen) wichtig, sondern auch für das Wohlbefinden des erwachsenen Hundes. Hackbarth u. Lückert (2000) definieren Wohlbefinden folgendermaßen: "Wohlbefinden liegt dann vor, wenn ein Tier frei von negativen Empfindungen ist. Kennzeichnend für ein Wohlbefinden sind Gesundheit, Zufriedenheit, die Erfüllung sozialer und ethologischer Bedürfnisse und normales Verhalten. Anknüpfungspunkt für diesen Zustand sind die gesamten Lebensumstände eines Tieres. .... Bedarfsdeckung und Schadensvermeidung sind Grundvoraussetzungen für das Vorliegen von Wohlbefinden. Das Tier muss physiologisch ausgewogen und frei von Schmerzen sein, seine Verhaltensbedürfnisse ausleben sowie seine Umwelt kontrollieren können. Für die Beurteilung des Wohlbefindens bilden Morphologie, Physiologie und das Verhalten eines Tieres repräsentative Parameter."

   Hunde benötigen für ihre Bedarfsdeckung und Schadensvermeidung u.a. wechselnde Umweltreize, Sozialkontakte und artgemäße Bewegung. Wechselnde Umweltreize können Hunden auf täglichen Spaziergängen geboten werden. Das Bewegungsbedürfnis der Hunde durch Laufen neben dem Fahrrad zu decken, ist auch mit einem gut passenden Maulkorb nur eingeschränkt möglich (s.o.). Viele Hundebesitzer spielen auf den täglichen Spaziergängen mit ihrem Hund Lauf- und Apportierspiele (mit Ball, Stock oder anderem Spielzeug). Dies ist mit Maulkorb und Leine nicht mehr möglich. Viele Hunde sind gewohnt, mit Artgenossen zu spielen. Auch dies ist an der Leine und mit Maulkorb nicht möglich. Viele durch die Gefahrtierverordnung betroffene Hundebesitzer berichten, dass ihre, meist älteren Hunde, trotz durchgeführter Maulkorbgewöhnung, mit Maulkorb ein gestörtes Verhalten zeigen. Dies reicht so weit, dass einige Hunde beim Spaziergang mit Maulkorb keinen Kot und Urin mehr absetzen. Aus Ethologie und Verhaltenstherapie weiß man, dass drastische Veränderungen der Lebensbedingungen die häufigste Ursache für sog. "Aktualgenetisch erworbene Verhaltensstörungen" sind. Bei der Genese dieser Störung spielt neben einer reizarmen Haltung (eingeschränkte Bewegungs- und Spielmöglichkeit)  auch die begrenzte oder fehlende Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Artgenossen eine große Rolle. Die Folge ist Frustration, eine Motivationslage, die entsteht, wenn ein Tier daran gehindert wird, eine bestimmte Verhaltenssequenz zu vollenden oder überhaupt auszuüben. Häufig äußert sich diese erworbene Verhaltensstörung in Apathie oder in Aggressivität gegen Menschen und Artgenossen.

   Angeleinte Hunde mit Maulkorb haben im Falle eines Angriffs durch einen Artgenossen keine Verteidigungsmöglichkeit. Je nach Schwere dieses traumatischen Erlebnisses kann es bei dem betroffenen Hund zu sozialer Unsicherheit, Nervosität, hysterischen Reaktionen oder Aggressivität kommen (traumatische Verhaltensstörungen nach Lernprozessen).

   Nach § 1 TierSchG darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Die Gefahrenabwehr von der Bevölkerung ist sicherlich ein vernünftiger Grund, das Wohlbefinden von Tieren einzuschränken. Jedoch ist nach Hackbarth u. Lückert (2000) bei der Bestimmung des Vorliegens eines vernünftigen Grundes im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das Vorhandensein folgender Voraussetzungen zu prüfen:

• Das gewählte Mittel, welches eine Beeinträchtigung des Tieres mit sich bringt, muß im konkreten
  Fall geeignet sein, das angestrebte Handlungsziel zu erreichen.

• Der Eingriff muß notwendig sein, d.h. es darf keine die Integrität der Tiere weniger beeinträch-
  tigende Maßnahme mit gleicher Effektivität in Betracht kommen. Wenn man ein Tier schon in
  seiner körperlichen und psychischen Integrität beeinflußt, muß man von mehreren zur Verfügung
  stehenden Mitteln dasjenige wählen, welches für das Tier die geringsten Auswirkungen mit sich
  bringt.

• Es muß das Kriterium der Angemessenheit vorliegen. Hier muß eine Abwägung zwischen Mittel
  und Zweck vorgenommen werden. Dies ist nur im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung möglich.

   Nach der Nds. GefTVO und den Durchführungshinweisen zu dieser Verordnung können Hunde der Anlage 1 durch den bestandenen Wesenstest vom Maulkorb- und Leinenzwang befreit werden, Hunde des § 1 jedoch nicht. Da der Wesenstest erst ab einem Alter von 15 Monaten abgenommen werden kann, unterliegen die betroffenen Junghunde bis zu diesem Alter zumindest dem Leinenzwang. Mögliche Folgen sind oben dargelegt worden. Ziel des Wesenstestes ist es, Individuen mit gestörter aggressiver Kommunikation zu erkennen. Hunde mit gestörter aggressiver Kommunikation leiden und sind für ihre Umwelt aufgrund ihrer Verhaltensstörung ein erhöhtes Gefährdungspotential (Ausführungen des Nds. ML zum Wesenstest, 2000). Folglich ist bei Hunden, die den Wesenstest bestanden haben, eine gestörte aggressive Kommunikation nicht erkennbar und ihre Sozialverträglichkeit überprüft. Unterliegen diese Hunde trotzdem weiterhin dem Maulkorb- und Leinenzwang, muss man sich bewusst sein, dass es zu den oben geschilderten Verhaltensstörungen kommen kann.

   Die hier dargestellten möglichen Auswirkungen von Maulkorb- und Leinenzwang gelten nicht nur für die in der Nds. GefTVO aufgeführten Hunderassen, sondern grundsätzlich für alle Hunde.
 

Literatur

1. Feddersen-Petersen, D. (1991 a): Genese von Verhaltensstörungen bei Hunden infolge nicht hundegerechter Mensch-Hund-Kommunikation. KTBL-Schrift 351.

2. Feddersen-Petersen, D. (1991 b): Aggressive Hunde - ein Tierschutzproblem Schutz des Tieres vor Mißbrauch durch den Menschen bedeutet Menschenschutz. Tierärztl. Umschau 46, 749-754.

3. Hackbarth, H., A. Lückert (2000): Tierschutzrecht. Jehle Rehm.

4. Hart, B.L., L.A. Hart (1991): Verhaltenstherapie bei Hund und Katze. Enke.

5. Scott, J.P. (1962): Critical Periods in Behavioral Development.  Science 138, 949-958.


Dr. Willa Bohnet                                                                     Hannover, 25. September 2000
Tierschutzzentrum
Tierärztliche Hochschule Hannover
Bünteweg 2
D- 30559 Hannover

(Anm.: Die Stellungnahme liegt im Original vor.)